Das Schwarz, das Licht, die Malerei

 

Das Schwarz ist älter als das Licht. Vor dem Licht waren die Welt und die Dinge in der vollkommenen Dunkelheit. Mit dem Licht entstanden die Farben. Das Schwarz geht ihnen vorher – älter als wir selbst, bevor wir geboren wurden, bevor wir « das Licht der Welt erblickten ». Diese Vorstellungen vom Ursprung sind tief in uns verwurzelt. Spricht uns deshalb des Schwarz so mächtig an ?

Vor 32 000 Jahren, dem Beginn der Malerei, begaben sich Menschen zum Malen ins Innere der Erde, in das absolute Dunkel von Höhlen und Felsgrotten. Sie behielten dies viel Jahrtausende lang bei. Und sie malten mit Schwarz, das nicht nur eine grundlegende, sondern auch eine der ursprünglichen Farben der Malerei ist.

Das relativ kurz zurückliegende Abenteuer der Malerei am Ende des 19. Jahrhunderts bewog einige Maler, aus dem geschlossenen Raum ihrer Ateliers herauszutreten und unter freiem Himmel zu malen. Von nun an blieb das Schwarz von ihrer Palette verbannt. Es ist überliefert, dass Cézanne, als er mit ein paar Malern und einem Kunstsammler im Freien frühstückte, plötzlich feststellte, dass er seinen Mantel irgendwo liegen lassen hatte. Wo mochte er nur sein ? Plötzlich sagte er : « Da hinten ist ein Schwarz, das es in der Natur nicht gibt ! » Und schon lief er zu dieser Stelle.¹

Die beiden Farben Schwarz und Weiss unterscheiden sich grundsätzlich von den Spektralfarben. « Alle anderen Farben der Erde, schreibt Herman Melville, sind nur subtile Illusionen, ob es sich um die zarte Färbung eines Sonnenuntergangs oder des Blattwerks im Wald, um den goldenen Flaum von Schmetterlingsflügeln oder von Jungmädchenwangen handelt. Nichts von all dem ist ein wirklicher Bestandteil der Dinge, sondern nur ein einfacher Überzug, und die ganze göttliche Natur ist einfach angemalt (…). »²

Die Bezeichnung einer Farbe sagt nichts darüber, was sie wirklich ist, sie lässt uns im Unklaren über ihren Glanz oder ihre Mattheit, ihre Durchsichtig- oder Undurchsichtigkeit, über die Beschaffenheit, ihrer glatten, streifigen oder rauen Oberfläche. Wir erfahren nichts über die Form, ob sie rund oder eckig ist. Sie verbirgt uns ihre Masse und macht keine quantitativen Angaben. Es sind dies alles Dinge, die auch die Qualität verändern, denn : ein Kilo Grün ist grüner als nur 100 g des gleichen Grün, sagte Gauguin. Die Maler wissen, dass das bei allen Farben so ist. Eine mit ein und demselben Topf Schwarz fertig angerührte Farbe z.B. stellt ein umfassendes und komplexes Gebilde dar. Von ihm, von seiner Abmessung, seiner Oberflächenbeschaffenheit, der Ausrichtung seiner eventuellen Maserung, seiner Duchtsichtig- oder Undurchsichtigkeit, seiner Mattheit, dem Reflektieren seiner Farbe und seinen Beziehungen zu den Dingen seines Umfelds hängen das Licht, der Rhythmus, der Raum des Bildes und seine Wirkung auf den Betrachter ab. Es schwarz zu nennen, hiesse, die Ganzheit zu zerteilen, zu verstümmeln, zu reduzieren, zu zerstören. Als würde man mit dem Kopf und nicht mit den Augen sehen.

Diese konkreten Eigenschaften sind es, die die Wirkung in der Kunst des Malens ausmachen. Von ihnen kommen die sinnlichen und geistigen Beziehungen zu den Farben, die sich in unserer Vorstellung mit dem Tastempfinden, dem Geschmack, dem Geruch und jeder anderen Erfahrung, die wir mit der Welt und den Dingen machen, vermischen.

Die Bezeichnung einer Farbe ist im eigentlichen Sinne eine Abstraktion, auf der aufbauend die konventionellen und mitunter widersprüchlichen Bedeutungen entstehen. Schwarz ist hier zu Lande die Farbe der Trauer und des Unglücks, anderswo hat Weiss diese Bedeutung. Wobei es auch bei uns das festliche Schwarz gibt, das Schwarz des Luxus ebenso wie das der mönchischen Strenge, der offiziellen Feierlichkeiten sowie der Revolte und der Anarchie.

Die Kunst lebt von der Abweichung von Sinngebungen dieser Art. Reduzierte man ein Werk auf sein Zeichen (das mitunter als Vorwand diente) und auf die blosse Mitteilung, hätte es nichts mehr mit Kunst zu tun. Seine künstlerische Ausstrahlung ergibt sich aus seiner Einzigartigkeit und aus dem, was es tatsächlich darstellt. Welchen Sinn man in ihm sieht oder nicht sieht, hängt sowohl von der Sache, die es ist, als auch vom Autor und vom Betrachter ab. Die Realität eines Kunstwerks entsteht aus diesem Dreierverhältnis, sie ist also veränderlich und unterscheidet sich je nach Betrachter, der jeweiligen Kultur und Zeit.

Ich liebe die Autorität der Farbe Schwarz, ihre gravitätische Art, ihre Evidenz und Radikalität. Sie bildet einen starken Kontrast und gibt so allen Farben eine besonders intensive Präsenz. Sie bringt die dunkelsten von ihnen zum Leuchten und verleiht ihnen so eine düstere Grösse. Im Schwarz verbergen sich ungeahnte Möglichkeiten, und mit gespannter Aufmerksamkeit für alles, was ich nicht weiss, gehe ich auf sie zu.

Als ich eines Tages malte, hatte mit einem Mal das Schwarz die gesamte Fäche des Bildes erfasst, ohne irgendwelche Formen oder Konstraste, ohne das kleinste Durchschimmern. In dieser extremen Form erkannte ich in gewisser Weise die Negation des Schwarz. Die unterschiedliche Beschaffenheit der Unterlage reflektierte das Licht mehr oder weniger stark, und aus dem Dunkel kam eine Klarheit und ein bildhaftes Licht, dessen besondere emotionale Kraft mich in meinem Wunsch zu malen bestärkte. Ich liebe es, dass diese starke Farbe zur Verinnerlichung anregt. Mein Instrument war nun nicht mehr das Schwarz, sondern dieses aus dem Schwarz kommente heimliche Licht, das, aus der völligen Lichtlosigkeit kommend, von grosser Intensität ist. Ich habe mich auf diesen Weg begeben, und ich finde immer neue Erhellungen.

Diese Bilder nannte man mitunter auch Noir-Lumière,³ Schwarz-Licht : ein Licht also, das untrennbar mit dem reflektierenden Schwarz verbunden ist. Um die Bilder nicht auf das Optische zu beschränken, habe ich das Wort Outrenoir für ein Metaschwarz jenseits der Farbe Schwarz erfunden; ein durch das Schwarz verändertes Licht, das, so wie Outre-Rhin (am anderen Rheinufer) und Outre-Manche (auf der anderen Seite des Ärmelkanals) jeweils ein anderes Land bezeichnet, ein über das einfache Schwarz hinausgehendes, mentales Feld benennt.

Pierre Soulages, « Le Noir, la lumière, la peinture » (Vorwort) in Annie Mollard-Desfour, Dictionnaire des mots et expressions de couleur, IV : Le Noir, Editions du Centre National de la Recherche Scientifique, Paris 2005

 


 

¹ André Malraux, zitiert von Michel Ragon, Les Ateliers de Soulages, Verlag Albin Michel, Paris 2004.

²Hermann Melville, Moby Dick, 1851.

³Noir-Lumière. Titel der Ausstellung von Pierre Soulages im Musée d’art moderne de la Ville de Paris, Paris 1996.