Pierre Soulages (rétrospective, Kestner-Gesellshaft, Hanovre)

 

Pierre Soulages
Es ist in jüngster Zeit viel die Rede von einer Krise der abstrakten Kunst. Da hier ein
Künstler zur Debatte steht, dessen Vertrauen in die Sprache der abstrakten Kunst unge-
brochen ist, liegt es nahe zu fragen, was es mit dieser Krise auf sich hat. Nichts ist leichter
als der Nachweis, daß sich die Kunst — heute oder wann immer – in einer Krise be-
findet, denn von da her bezieht sie jederzeit ihre Fruchtbarkeit und Intensität. Nicht also
die Tatsache, daß eine Krise besteht, sondern daß sie weithin behauptet wird, ist von
symptomatischem Interesse. Was man in unsern Tagen als die Krise der abstrakten Kunst
bezeichnet, ist viel eher eine solche des Publikums in seiner Einstellung zur abstrakten
Kunst, sowie eines Teiles der Kunstkritik als dessen Sprachrohr. Die Krise, in der man
sich selbst befindet, projiziert man kurzerhand in die Kunst. So ist der alte, aber plötzlich
zu neuer Publizität gekommene Wunsch, es möge endlich mit der abstrakten Kunst ein
Ende haben, der Vater des Gedankens, daß es mit ihr tatsächlich zuende gehe.

[…]

Mit den beschriebenen Eigentümlichkeiten seiner künstlerischen Sprache ist Soulages einer jener hervorragenden Künstler, deren Werk in ihrer Zeit einen bestimmten „Ort“ mar-
kiert, einen Fixpunkt im Kräftespiel zeitgenössischer Kunst, den man immer im Auge hat,
wenn man die Position anderer Künstler zu bestimmen sucht. Das ist über den Rang der
einzelnen Bilder hinaus ein Symptom für den historischen Rang der Kunst dieses außer-
ordentlichen Malers.

Werner Schmalenbach

Auteur(s) : Werner Schmalenbach
Éditeur : Kestner-Gesellschaft, Hannover. Parution : 1960